Zwischen Vielfalt und Einigkeit – Demokratie in der Kirche leben

Die Kirchen stehen für die Demokratie als Lebensform der Vielfalt ein.“ So steht es in großen Buchstaben im letzten EKD-Papier zum Thema „Konsens und Konflikt – Politik braucht Auseinandersetzung“. Einzelne Gedanken aus diesem Papier finden sich in diesen Thesen wieder.

In der Merseburger Kreissynode habe ich am 25.05.2019 neun Thesen zu diesem Thema zur Diskussion gestellt, die hier wiedergegeben werden. Diese Thesen sollen zum Nachdenken anregen. Sie sind also keine fertigen Wahrheiten, sondern Impulse, an denen Sie sich reiben sollen, mit denen Sie sich auseinandersetzen können, von denen Sie sich anregen lassen dürfen, um auf das zu kommen, was Ihnen selbst in dieser Frage wichtig ist.

These 1:
Demokratie braucht Vielfalt. Aufgabe der kirchlichen Gremien ist es, den vielfältigen Lebensformen, Haltungen und Meinungen unserer Gemeindeglieder gerecht zu werden und dabei die Einheit und den Auftrag der Kirche im Blick zu behalten.

Wir leben in einer Gesellschaft (und in einer Kirche) der Vielfalt. Das heißt auch, dass wir nicht vorrangig mit Einigkeit rechnen können. Auch in der Kirche nicht. So steht die Demokratie im Lande genauso wie die Kirche vor der Herausforderung, erheblich vielfältigeren Lebensformen gerecht zu werden als früher und gleichzeitig den gesellschaftlichen und den kirchlichen Zusammenhalt im Blick zu behalten.

Aufgabe kirchlicher Leitungsgremien ist es immer weniger, mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit zu entscheiden, wie der einen richtigen Haltung Ausdruck zu verleihen ist. Vielmehr steht immer häufiger die Frage, wie die Vielfalt der Meinungen, Positionen und Haltungen in einem versöhnten Miteinander verbunden werden kann. Wie geben wir allen legitimen Ausdrucksformen des Glaubens Heimat in unserer Kirche?

Dass die Frage nach der Wahrheit und den Grenzen der Akzeptanz für die Kirche dennoch unverzichtbar ist, liegt auf der Hand. Sie wird immer wieder neu beantwortet werden müssen.

These 2:
Demokratie braucht Rücksicht. Sie ist nie Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit.

Mehrheitsentscheidungen sind nicht an sich schon demokratisch. Demokratische Leitungen werden sich vielmehr immer daran messen lassen müssen, wie sie mit Minderheiten umgehen. In der Kirche haben wir das formulierte Ziel, dass z. B. der GKR möglichst einen Konsens im Miteinander findet. Zumindest sollte es eine Lösung sein, mit der alle leben können. Dennoch wird es gelegentlich zu vielleicht sogar knappen Mehrheitsentscheidungen kommen müssen. Dabei sollte zugleich überlegt werden, wie die „Unterlegenen“ mitgenommen werden können und die Interessen, die sie vertreten, ausreichend Berücksichtigung finden.

Es dürfte klug sein, aus einer Vielzahl von möglichen Abstimmungsformen immer wieder die jeweils günstigste auszuwählen. Nur manchmal wird das die einfache Entscheidung durch Mehrheiten sein. An anderen Stellen könnten Gremien Systemisches Konsensuieren oder Abstimmungen mit Vetorecht wählen. Informieren Sie sich beispielsweise über Systemisches Konsensuieren unter www.konsensuieren.eu.

These 3:
Demokratie braucht kritische Loyalität. Das bedeutet, dass Gremien- und Leitungsentscheidungen von allen mitgetragen werden, auch von denen, die zunächst dagegen waren.

Wenn Entscheidungen in der oben beschriebenen Weise getroffen wurden und Minderheiten ihr Recht bekommen, dann sollte es für alle möglich sein, diese Entscheidung mitzutragen – auch in der (Gemeinde-)Öffentlichkeit.

Natürlich muss es erlaubt sein, öffentlich zu sagen „Ich hätte anders entschiedn.“ Es kann aber die Atmosphäre vergiften, wenn dies nicht begleitet wird von der Weiterführung: „Aber nun hat es eine Entscheidung gegeben, die wir gemeinsam umsetzen werden.“

These 4:
Demokratie ist auch Konflikt. Zur Demokratie gehört die Einsicht, dass der Konflikt nicht per se bereits eine Krise, sondern eher den Normalfall darstellt.

Es ist kein realistisches Ziel, jeglichen Konflikt zu vermeiden oder bereits im Keim aufzulösen. Im Spannungsfeld von Konflikt, Kompromiss und Konsens ist es hingegen wichtig, dass wir lernen Konflikte auszuhalten und zu bearbeiten.

Wenn es richtig ist, dass auch die Kirche eine Institution der Vielheit ist, dann sind Konflikte in der Kirche nicht zu vermeiden. Gremien, die konfliktfrei arbeiten, können sich fragen, ob sie die Vielfalt der Gemeinde wirklich gut abbilden und ob in ihnen alle legitimen Strömungen eine Chance haben, Einfluss zu nehmen.

These 5:
Demokratie braucht Konfliktbewältigung. Professionelles Konfliktmanagement ist nicht das Eingeständnis eines Problems, sondern gehört zur demokratischen Kultur unbedingt dazu.

Konflikte können sich zuspitzen. Sie bergen dann tatsächlich die Gefahr, eine Krise auszulösen oder sogar destruktiv zu werden. Es kommt darauf an, Strukturen zu schaffen und Mentalitäten zu unterstützen, die dabei helfen, mit Konflikten und Dissonanzen so umzugehen, dass deren de­struktives Potenzial eingehegt wird. Nur so können diese sowohl für den Einzelnen als auch für die Kirche insgesamt fruchtbar sein.

Konflikte, können in eine Polarisierung hineinführen, die sich dem Gespräch entzieht. Sie können den Korridor des demokratischen Streits verlassen. Im Konflikt können Personen oder ganze Personengruppen diffamiert werden. Sie können in Wut oder gar Gewalt umschlagen. Die Eskalationsforschung bietet uns inzwischen ausreichende Kenntnisse zur inneren Dynamik von Konflikten.

Es ist unbedingt notwendig, dass auch die Kirche auf allen Ebenen eine Kultur entwickelt, innerhalb derer klar ist, wie im Falle einer Konflikteskalation bereits auf relativ niedriger Stufe umgegangen wird. Für alle Eskalationsstufen braucht es einen Standard, nach dem die jeweils Verantwortlichen intervenieren können.

These 6:
Demokratie braucht Methodik. Auch methodische Entscheidungen der Sitzungsgestaltung müssen demokratisch sein, d. h. sie müssen die Unterschiedlichkeit der Menschen berücksichtigen.

Bei der Frage der Arbeitsweise des GKR und beim Ablauf der Sitzungen sollte berücksichtigt werden, dass Menschen unterschiedlich sind. Eine Entscheidung ist nur dann demokratisch, wenn auch diejenigen eine Chance hatten, sich zu äußern, für die das Plenum zu groß, die Materie zunächst zu kompliziert oder das Tempo der Leitung zu schnell ist. Hier braucht es Entschleunigungsprozesse, Nachfragemöglichkeiten und Meinungsbildung in kleinen Gruppen oder Murmelrunden.

Sicher kann nicht jede Entscheidung in einem ausgefeilten und durchdachten methodischen Prozess herbeigeführt werden. Manches, was in unseren Gremien beschlossen wird, kann auch zügig „abgehakt“ werden. Aber bei Entscheidungen von hoher Bedeutung oder bei strittigen Entscheidungen kommt es drauf an, dass alle in guter Weise an der Meinungsbildung beteiligt werden. Wenn dann die große Runde nicht durch andere Methoden ergänzt und das Tempo verlangsamt wird, dann bleiben einzelne fast immer auf der Strecke und dem Gremium gehen ihre Ideen verloren.

These 7:
Demokratie braucht Transparenz. Geheimwissen schadet in aller Regel der demokratischen Beteiligung.

In demokratischen Gremien ist Transparenz eine der Grundvoraussetzungen guter Arbeit. Das betrifft mindestens zweierlei:

Transparenz nach außen: Gemeindeglieder müssen wissen, was im GKR beschlossen wurde, wozu er da ist, wer dazu gehört und auf welcher Basis die Leitungsarbeit im GKR passiert. Das ist eine Aufgabe für die Öffentlichkeitsarbeit in der Kirchengemeinde.

Transparenz nach innen: Wenn ein Thema angesprochen wird, muss als erstes eine gemeinsame Informationsbasis hergestellt werden. Alle Beteiligten sollten gleich am Anfang alle relevanten Informationen haben. Wenn es Herrschaftswissen bei Einzelnen oder Gruppen gibt, behindert das die Arbeit und vergiftet die Atmosphäre. Eine Meinungsbildung in Gremien, bei der nach jeder Äußerung zusätzliche Informationen auf den Tisch kommen, ist eine Katastrophe.

Größere Gemeinden oder Gemeindeverbünde sowie Kirchenkreise sollten sich klar werden, wie gutes Informations-Management realisiert werden kann. Im digitalen Zeitalter sind die Möglichkeiten dafür groß. Es gibt nur wenige Informationen, die vertraulich behandelt werden müssen. Dazu gehören selbstverständlich personenbezogene Daten, Personalfragen und Zugangsdaten. Alles andere sollte für haupt- wie ehrenamtlich Mitarbeitende frei zugänglich sein.

These 8:
Demokratie braucht Leitung und Rollenklarheit. Das heißt auch Machtausübung und Entscheidungsfreude. Und: Machtausübung in der Demokratie muss offen sein, klar begrenzt und an Werten orientiert.

Die Rollen im Gemeindekirchenrat sollten klar definiert sein. Es ist wichtig, dass gut abgesprochen und respektiert wird, welche Aufgaben Pfarrer*innen, GKR-Vorsitzende, Beauftragte, Ausschüsse jeweils haben.

Ein besonderes Thema ist der Umgang mit Macht. In jedem Entscheidungsgremium wird Macht ausgeübt. Je transparenter das geschieht, je klarer Machtausübung verabredet oder geregelt ist, desto einfacher ist die Zusammenarbeit. Welche Kompetenzen haben Pfarrer*innen und Vorsitzende? Wie passiert in den Sitzungen Meinungsbildung und wie wird zwischen den Sitzungen entschieden? Was dürfen oder sollen Ausschüsse, Verkündigungs-Mitarbeitende oder Beauftragte allein entscheiden, was muss durch den GKR „abgesegnet“ werden?

Das Ziel dieser Absprachen sollte sein, dass Entscheidungen effektiv und kompetent getroffen und umgesetzt werden, ohne dass sich jemand übergangen fühlt. Dafür muss Macht beherzt ausgeübt, aber auch klar begrenzt werden. Auch hier sind Konflikte wohl nicht zu vermeiden und müssen frühzeitig angesprochen werden.

These 9:
Demokratie braucht Vertrauen. Die Arbeit kirchlicher Gremien kann nur funktionieren, wenn es gegenseitiges Vertrauen gibt.

Im Grundsatz liegt es wohl auf der Hand, dass diese These zutreffend ist. Aber es könnte durchaus strittig sein, was das im einzelnen bedeutet. Woran erkennen wir, dass Vertrauen da ist? Wie merken wir rechtzeitig, dass Vertrauen schwindet und was tun wir dann? Das sind nur zwei Fragen, die wir in unseren Gremien stellen können.

Fakt ist: Misstrauen muss ausgesprochen, bearbeitet und ausgeräumt werden, bevor es zu guten Prozessen kommen kann.

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